Toni Seiler: Von Wölfen, Hunden und Menschen

Toni Seiler starb am 30. August 2019 und er hinterlässt bis heute große Lücken. Er war nicht nur ein beliebtes Mitglied unseres Vereins Wolfsschutz-Deutschland e.V. und ein Förderer der Initiative „Menschen für Wölfe“ von Brigitte Sommer und Volker Vogel, sondern auch ein bedeutender Wolfskenner, der eng mit dem bekannten Wolfsforscher Erik Zimen zusammenarbeitete. Nach Erik Zimens Tod im Jahr 2003 beendete Toni Seiler seine Arbeit mit Wölfen. Die selbsternannten Wolfskenner, die nach Zimens Tod plötzlich wie Pilze aus dem Boden wuchsen, waren ihm ein Dorn im Auge, denn Ahnung von Wölfen hätten die nicht, wie er uns erzählte. Toni Seiler, der auch als Hundetrainer arbeitete, hinterließ unter anderem einige Skripte zum Thema Wolf  und Hund. Mit Erlaubnis seiner Witwe Susan veröffentlichen wir hier einen Auszug daraus. Darin räumt er mit vielen Vorurteilen gegenüber Wölfen auf und spricht, wie man ihn kannte, Klartext.

Toni Seiler setzte sich mit all seiner Kraft für die Wölfe ein. Seine Zusammenarbeit mit dem Wolfsforscher Erik Zimen prägte sein Leben in und mit der Natur. Foto: Brigitte Sommer

Die Märchen vom „bösen Wolf“

Bei den Märchen der Brüder  Grimm sollte man bedenken, dass es sich in der damaligen Zeit, also Anfang des 19.Jahrhunderts, um „Erziehungsgeschichten“ handelte, aufgezeichnet und gesammelt von den Brüdern Grimm. Schauen wir uns mal expliziet „Rotkäppchen und der Wolf“ an. Ein Märchen, das ursprünglich übrigens aus Frankreich stammt, (100 Jahre vor der Veröffentlichung durch die Brüder Grimm). Bei genauerer Betrachtung des Märchens, zwischen den Zeilen, erkennt man sehr schnell, dass in dieser Geschichte nur zwei menschliche Wesen Angst und Furcht vor dem Wolf gemacht wird, zum einen der Großmutter (Frau), zum anderen Rotkäppchen (Kind), aber keinem Mann!

Bedenkt man nun, in welcher Zeit das Märchen spielt (also 1820-1830), so liegt die Erklärung dafür auf der Hand. Die Geschichte schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Frauen und Kinder mieden aus Angst vor dem Wolf den Wald, um etwa Beeren, oder Pilze zu sammeln und waren somit auch keine Quelle der „Unruhe“ für das jagdbare Wild.

Männer hingegen benötigten die Landgrafen, Kurfürsten und sonstigen Jagdherren als Treiber bei der Wolfsjagd. Unter diesem Gesichtspunkt wird aus dem ach so schönen Märchen eine grauenhafte Geschichte, die dem Wolf bis heute noch mitspielt, bis zur Ausrottung in vielen europäischen Ländern. Nun, Märchen über und um den Wolf gibt es noch heute. Da sind zum Beispiel die ewig gestrigen Jäger mit ihrer Mär, der Wolf würde Rehe,  Hirsche, Wildschweine, Hasen etc. im Bestand reduzieren, oder gar ausrotten. Diesen Herrschaften gebe ich folgendes zu bedenken:

  1. Die Population von Beutegreifern ist immer abhängig vom Beutevorkommen. Man benötigt nicht die mathematischen Fähigkeiten eines Albert Einstein, um zu verstehen, dass bei zunehmender Reduzierung der Beutetiere sehr bald der Bestand nicht mehr ausreicht, um bei gleicher Anzahl von Wölfen all diese ausreichend zu ernähren. Dies würde bedeuten, dass sich Beutegreifer ihre eigene Existenzgrundlage vernichten. Doch diese Fähigkeit hat bislang nur eine Spezies bis zur Perfektion entwickelt… der Mensch!
  2. Eines hat der Wolf mit Sicherheit mit uns Menschen gemein: Er geht immer den Weg des geringsten Widerstands und dem geringsten Risiko. Das bedeutet, dass er immer das schwächste Wild jagd, also kranke, junge, oder alte Tiere. Die Trophäenträger bleiben den Jägern erhalten! Die natürliche Auslese, die der Wolf betreibt, würde den Wildbestand gesunden, die jagdliche Auslese nicht!

Es gibt noch eine zweite Gruppe von Wolfsgegnern und Märchenerzählern: Die Schäfer. Interessant ist, dass die Feindschaft und Abneigung bis hin zum Hass bei uns in Deutschland besonders groß ist. Bei Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm hatte Zimen in den Abruzzen auch Kontakt zu einem Schäfer, der den ganzen Sommer mit seiner Herde und seinen Hunden auf den Bergweiden verbrachte. Natürlich war Erik interessiert daran, zu erfahren, wie ein Schäfer, der etwa sechs Monate im Jahr in einer Gegend verbringt, in der es freilebende Wölfe gibt, über den Wolf denkt. Erik war überrascht, dass der Schäfer keine Angst vor den Wölfen hatte und dass er es als normal empfand, dass gelegentlich ein Schaf gerissen wurde (In Italien wurde schon damals Schäfer für Risse durch den Wolf entschädigt!). Die weitaus größere Überraschung erlebte Erik Zimen paar Tage später, als er im Heimatdorf des Schäfers dessen Bruder kennenlernte. Als er ihn nach seiner Meinung über die Wölfe in den Bergen befragte, sagte er: „Oh, die sind gefährlich“. Auf Eriks erstaunte Frage, wie es denn sein könne, dass sein Bruder, der allein mit seinen Tieren dort oben lebe und keine Angst habe, bekam er zur Antwort: „Der hat ja auch keinen Fernseher“. Wie man sieht: Fernsehen bildet…

Die Mär vom „Blutrausch“ und der „Mordgier“ der Wölfe

Da gibt es auch die Mär vom „Blutrausch“ und der „Mordgier“ der Wölfe. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, mit diesen idiotischen Begriffen aufzuräumen. Um besser zu verstehen, wie es aus Unwissenheit dazu kommt, Beutegreifer mit diesen Attributen zu belegen, muss man erst einmal den Begriff Triebhandlung verstehen.

Jede Triebhandlung wird durch den sogenannten „Triebauslösenden Reiz“ initiiert. Das bedeutet, nur dieser Reiz versetzt das Lebewesen in die entsprechende Triebstimmung. Das ist auch bei Menschen so, hier wäre z.B. der Sexualtrieb zu nennen. Bei Beutegreifern ist der Beutetrieb in dem Moment aktiviert, wenn das ins Beuteschema passende Tier die Flucht ergreift. Wie durch einen Schalter nimmt dann die Triebhandlung ihren Lauf. Und zwar durch eine „gesetzmäßig“ aufeinander folgende Handlungskette. Beim Beutetrieb geschieht das wie folgt:

  1. Jagen
  2. Packen
  3. Töten
  4. Verschnaufen und fressen.

Das Fressen ist die sogenannte Triebbefriedigung. Bei Misserfolg – schließlich ist nicht jede Jagd erfolgreich – entstehen Ersatzhandlungen, wie z.B. in die Luft schnappen und gähnen.

Mit diesem Wissen stellen wir uns nun mal vor, ein Wolf überwindet den Zaun von einem Nachtgatter. Dann rasen die Schafe in Panik durch das begrenzte Areal. Die Handlungskette beginnt mit einer logischer Weise sehr kurzen Jagd. Das erste Schaf wird gepackt und dann getötet. Zum Fressen kommt der Wolf allerdings nicht, denn um ihn herum rasen die anderen Schafe und das bedeutet für diesen Wolf, dass er nicht zur Triebbefriedigung kommt, sondern immer wieder packen und töten muss, bis zur Verausgabung.

In der freien Natur könnte er z.B. bei einem Rudel Damwild ein schwaches Tier reißen. Während dessen würde das übrige Rudel entkommen. Also: Der Wolf, der mehrere Tiere reißt und tötet, handelt nicht im Blutrausch, oder aus Mordlust, sondern weil er dem, ihm angeborenen Trieb folgen muss, er kann nicht anders! Das Gleiche passiert übrigens bei einem Fuchs im Hühnerstall. Bei unseren Hunden laufen exakt die gleichen Mechanismen ab. Übrigens: Man kann den Hund nur verstehen, wenn man seinen Vorfahren, den Wolf, versteht! Warum dies so eminent wichtig ist, begründet sich schon aus der Tatsache, dass ausnahmslos alle Hunde die gleiche Sozialstruktur besitzen, wie der Wolf. Und diese Sozialstruktur ist der von uns Menschen entsprechend!

Toni Seiler in seinem wunderschönen Garten bei einem unserer Gespräche.

Meine eigenen praktischen Erfahrungen mit Wölfen begannen im April 1991. Erik Zimen, der zu dieser Zeit im Auftrag der ARD auf einer Tschukschen Halbinsel für eine Dokumentation über die Tschukschen im äußersten Nordosten Sibiriens weilte, bekam just zu dieser Zeit die Nachricht aus Italien, dass er seine vier „Filmwölfe“ aus dem Gehege in den Abruzzen wegholen müsse, da dieses Gehege dringend für eine andere Verwendung benötigt werde. Wie dringend dies war und wie schnell sich diese Konsequenzen aus dieser Situation entwickeln würden, wurde mir schnell klar, als mich Erik montags abends anrief. Er fragte mich, ob es mir möglich wäre, innerhalb einer Woche (!) ein „provisorisches Gehege“ zu bauen. Vorausschicken muss ich, dass die vier Wölfe bereits an den Zoo in Zürich verkauft waren, der Zoo aber noch kein Gehege zur Verfügung hatte und die finanziellen Mittel zum Bau eines Geheges erst freigegeben werden sollten, wenn das bereits im Bau befindliche Futterhaus fertiggestellt sei. Hinzu kam, dass man ein bestehendes Rudel (drei Fähen, ein Rüde) nicht in ein Gehege mit bereits vorhandenen Wölfen integrieren kann. Und: Es gab keinen Zoo, oder Tierpark mit einem leerstehenden Gehege!

Erik Zimen hatte durch Dr. Dirk Neumann von mir und der Möglichkeit erfahren, ein für die Wolfshaltung geeignetes „Provisorium“ zu erstellen. Es folgten zehn Tage, fast ohne Schlaf, dafür mit sehr viel Schweiß, harter Arbeit und ganz viel Kaffee… Dr. Dirk Neumann (er starb 2014) leitete von 1983 bis 2008 eine Wolfsschule in Hanau, Wiesbaden und Kalletal. Sein 15-köpfiges Wolfsrudel war das weltweit erste dressierte Wolfsrudel.  Durch seine Forschungen konnte er mit dem in vielen Köpfen verankerten Bild vom „bösen Wolf“ aufräumen.

Ergänzung:

Toni Seiler gelang es, auf seinem Grundstück ein Wolfsgehege zu errichten, in dem er auch Wölfe großzog. Mit seiner Lieblingswölfin Inge besuchte er auch Schulen und erklärte Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrerinnen und Lehrern das Wesen der Wölfe.

Ein Foto aus glücklichen Tagen: Toni Seiler mit seiner Wölfin Inge in seinem Wolfsgehege. Mit Inge besuchte er auch Schulen, um Kinder und Lehrerinnen und Lehrer über den Wolf aufzuklären.

 

Die „Gefährlichkeit“ der Wölfe

Der Wolf spaltet die heutige Menschheit (zumindest in Deutschland). Die einen sehen in ihm die gefährlichste, blutrünstigste Bestie, die nur darauf wartet, kleine Kinder, Omas, Schafen, Ziegen zu reißen, andere sehen im Wolf eine „Mitkreatur“, die man sich am liebsten zu Hause in der Wohnung halten möchte. Wieder andere akzeptieren den Wolf als Wolf und schätzen sein Wesen. Die beiden  ersten Einstellungen gehen völlig an der Realität vorbei.

Die „selbsternannten Wolfsforscher“ unserer Zeit werden spätestens seit dem Tod von Erik Zimen nicht müde, gebetsmühlenartig von ihrer Alphaposition bei ihren Gehegewölfen zu erzählen. Auch das gehört in den Bereich der Märchen und entspringt entweder der Unwissenheit, oder der Profilneurose derer, die solche Behauptungen aufstellen. Für diese selbsternannten Wolfsforscher wäre es sicher sehr hilfreich, das Buch „Der Wolf“ von Erik Zimen zu lesen.

Da gibt es aber auch ganz tolle, geniale „wissenschaftliche“  Tests zwischen Hunden und Wölfen, bei denen der Wolf deswegen schlechter abschneidet als der Hund, weil sich die Hunde auf den Menschen beziehen, ihn beobachten und auf dessen Handzeichen reagieren, weil er sich im Laufe der Zeit an den Menschen angepasst haben soll. Wow, welch geniale Entdeckung! Und für solche Test werden auch noch Forschungsgelder ausgegeben!

Wie wäre es denn, wenn man erst einmal klarstellen würde, was den Unterschied zwischen Hund und Wolf ausmacht? Die Wölfe in diesen Forschungsversuchen sind/waren natürlich Handaufzuchten, sonst wären sie für solche Tests auch nicht zu gebrauchen. Somit handelt es sich bei solchen „Forschungstest“ also um zahme Wildtiere. Bei den Hunden wiederum handelt es sich um Haustiere, die seit etwa 15 000 Jahren domestiziert sind. Das bedeutet nicht, dass sich der Hund dem Menschen angepasst hat, sondern er im Laufe dieser Zeit die Fähigkeit entwickelt hat, sich auf den Menschen und Seinesgleichen zu prägen und zu sozialisieren! Die Folge davon ist, dass er den Menschen als artgleich einen Rang höher anerkennt und demzufolge versucht, die Gesten, Mimik und den Augenausdruck zu deuten, den damit ist er verbunden mit dem täglichen Leben seines „Menschenrudels“.

All dies kann und tut der Wolf bei uns Menschen nicht. Für den Wolf sind wir, wenn wir ihn mit der Flasche aufziehen und auch noch bis zum Erwachsensein, die Ziehmutter/Ziehvater. Beim erwachsenen Wolf wird der, der ihn aufgezogen hat, zum Sozialpartner, sprich Freund! Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Er spielt in der Rangordnung keine Rolle. Die Fähigkeit bei uns Menschen, Mimik, Gestik, Augenausdruck usw. zu deuten, kommt bei der Betrachtung des Hundes ein erhebliches Maß an Bedeutung zu. Sie ist ein Teilbereich der vom Wolf ererbten Sozialstruktur.

Der Wolf ist intelligenter als der Hund

Die exakte Deutung der verschiedenen Signale lernen Hunde und Wölfe bereits in ihrer frühesten Kindheit. Wölfe können und brauchen dies nur untereinander und nicht beim Menschen. Das ist auch der Grund, warum sich der Wolf bei den vorgenannten Tests nicht auf die Menschen bezieht und deshalb fälschlicherweise schlechter abschneidet. An Intelligenz ist der Wolf dem Hund haushoch überlegen!

Wenn Toni anfing, über Wölfe zu reden, hörten wir gebannt zu. Hier ein Foto zusammen mit Brigitte Sommer und Volker Vogel

Eine weitere Klarstellung tut an dieser Stelle dringend Not. Die Wolfsbeobachtungen im Freiland, also in der Wildnis und im Gehege und die daraus resultierenden „Lehren“ im Bezug auf Umgang und die Erziehung von unseren Haus- bzw. Familienhunden.

Eine Unwahrheit wird auch dann nicht wahr, wenn sie immer und immer wieder verbreitet wird. Ich meine hier die Behauptung , man könne nur aus der Freilandbeobachtung den richtigen Umgang mit Hunden lernen. Es gibt einen gravierenden Unterschied im Verhalten des Wolfs und der besteht darin, dass ein rangniedriger Wolf in der Natur das Rudel, also die Familie, jederzeit verlassen kann. Im Gehege kann er das nicht. Unsere Hunde leben mit uns in der Familie (im Rudel), ebenfalls auf begrenztem Raum. Diesen Raum kann er auch nicht verlassen.

Wo lassen sich also jetzt ähnliche, oder gleiche Verhaltensmuster als Hilfe zur Hundeerziehung heranziehen?

„Der Alpharüde hat ausgedient, es lebe das Kollektiv“. Diesen Satz fand ich in einer Hundezeitschrift. Was will uns der Verfasser damit sagen? Er will sagen, dass die Hundebesitzer nicht mehr den Rudelführer für ihren Hund spielen brauchen. Mit anderen Worten: Lasst euren Hund im Kollektiv der Familie mitbestimmen.

Für alle, die unwissenden Hundebesitzer, die sich das zur Maxime für den Umgang mit ihrem Hund auf die Fahne schreiben wollen, habe ich nur einen Rat: Legen Sie sich eine Katze zu! Ihr Hund wird es bei aller Mühe ihrerseits nicht schaffen, sich wie eine Katze zu verhalten. Seine soziale Struktur ist ihm angeboren und damit das Bedürfnis nach Führung! Bekommt er diese Führung nicht, wird er früher, oder später versuchen, diese selbst zu übernehmen. Na dann, viel Spaß…

Ich erlebe immer häufiger, dass das Wort „Führung“ als Synonym für Autorität steht und die ist heutzutage oft auch negativ belegt. Ist das Fazit daraus, den Hund antiautoritär zu erziehen? Nein!

Es ist meiner Meinung nach unschwer zu erkennen, dass Führung zur Erziehung gehört. Erziehung ohne Führung führt zwangsweise ins Chaos. Hundebesitzer, die ihren Vierbeiner ohne Führung erziehen wollen, erleben dann mit ihrem Liebling Verhaltensauffälligkeiten oder Ungehorsam, bis hin zur Aggression gegenüber Familien-Rudelmitgliedern. (Toni Seiler)

„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“ (Immanuel Kant)

 

Weitere Info: Nachruf von 2019: https://wolfsschutz-deutschland.de/2019/09/10/unser-vereinsmitglied-toni-seiler-ist-tot-als-mensch-und-wolfsexperte-ein-schmerzlicher-verlust/

 

Zu Besuch im Wolfspark Werner Freund in Merzig

„Auhuuuuuuu…“ Das Rudel Polarwölfe kommuniziert seine Zusammengehörigkeit. Mitten drin im Rudel sitzt Tatjana Schneider. Die Wölfe heulen mit ihr und sie mit ihnen. Darum herum ist kein weiterer Laut zu hören. Alles befindet sich im Gleichklang, pure Harmonie, echtes Gänsehautgefühl. Dabei polarisiert kaum ein Tier in Deutschland so sehr wie der Wolf. Die einen fürchten, die anderen lieben ihn. Tatjana arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren mit und für Wölfe. Im Wolfspark in Merzig, dessen Leitung sie nach dem Tod des bekannten Wolfsforscher Werner Freund  Jahr übernommen hat, leben 24 dieser stolzen Tiere, darunter die weißen Polarwölfe, schwarze Timber- und graue Europäische Wölfe. Sie hat tagtäglich hautengen Kontakt zu den einzelnen Rudeln. Alle Elterntiere sind per Hand aufgezogen, damit sie ihre natürlich Scheu vor dem Menschen verlieren. Mit ihren wilden Vertretern in der Natur sind sie deshalb vom Verhalten her nicht zu vergleichen, auch wenn sie außerhalb ihres Geheges wieder scheu sein würden. Wilde Wölfe sind scheu und weichen dem Menschen aus. Handaufgezogene Wölfe haben diese Scheu nur gegenüber ihren menschlichen Adoptiveltern nicht. „Wölfe sind keine aggressiven Tötungsmaschinen, sondern faszinierende Beutegreifer, deren Sozialleben dem unseren so ähnlich ist. Auch sie leben in Familien, auch sie sorgen für ihre Jungen, auch sie kommunizieren miteinander. Doch im Gegensatz zum Menschen tötet ein Wolf nur, wenn er Hunger hat.“

Tatjana Schneider (48)

 

Neben Reh, Wildschwein und Co. fressen sie auch Schafe, die nicht ausreichend geschützt sind. Genau da treten die größten Probleme auf. Viele Schaf- und Nutztierhalter sind nicht bereit, ihre Gehege wolfssicher zu machen. Dabei gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Von Herdenschutzhunden bis hin zu speziellen Zäunen. Von vielen Bundesländern gibt es dazu sogar Unterstützungen, bzw. auch Entschädigungen. 70.000 Euro flossen im vergangenen Jahr an Betroffene. Auch ehrenamtliche Helfer engagieren sich im Herdenschutz.

Dabei verursachen Wölfe geringe Schäden. Zum Vergleich. Die Kirschessigfliege verursachte 2015 Schäden von zwei Millionen Euro. Viele Jäger, die den Wolf als Beutekonkurrenten sehen, sind nicht bereit das, Tier hier zu akzeptieren, obwohl Wölfe europaweit den höchsten Schutzstatus haben. Immer wieder kommt es zu illegalen Abschüssen. 20 Fälle sind bekannt. Auch Deutschlands erste Wölfin Einauge wurde gleich mehrmals Opfer von Wilderern. Als man das Tier nach seinem Tod untersuchte, fand man etliche Geschosse im Körper. Schüsse, die Einauge überlebt hatte. So verlor dabei sogar ein Auge, was ihr den Spitznahmen verlieht. Die Täter können so gut wie nie dingfest gemacht werden. Ob sie aus der Jägerschaft kommen ungewiss? Fakt ist aber, dass sich viele Landes- und Ortsgruppen der Jägerschaft gegen den Wolf aussprechen und entsprechende Propaganda betreiben. Sie sind bei vielen Entscheidern der Wirtschaft, bis hin in die Politik vernetzt. Politiker haben das Thema Wolf als Wahlkampfhilfe entdeckt.

EuropŠäische Wöšlfe
Brigitte Sommer bei Tatjana Schneider

Tatjana hat ein anderes Konzept als Parkgründer Werner Freund. Sie mischt sich in die Machtverhältnisse unter den Tieren nicht ein. „Für die Wölfe bin ich eine Art Tante, sie freuen sich wenn ich sie besuche, und nicht nur, wenn ich Futter bringe. Ich mische mich allerdings nicht in ihre Spiele ein. Im Laufe der Jahre ist so ein echtes Vertrauensverhältnis entstanden. Den Respekt vor ihnen verliere ich dennoch nicht. Schließlich sind es Wildtiere.“ Keine Frage, die Niederländerin hat sich mit ihrer Arbeit einen Lebenstraum erfüllt, dabei war ihr Start in den Job eher skurril. „Als ich Werner damals fragte, ob ich bei Handaufzuchten mithelfen durfte, grummelte er ein „ja“, schleppte mich aber sogleich mit in den Schlachthof. Er wollte testen, ob ich nicht nur fürs Kuscheln, sondern auch für den Alltag tauge, denn Wölfe fressen nun mal Fleisch und Mitarbeiter dürfen nicht davor zurückschrecken, kranke Tiere zu erlösen. Eine Zwergziege, die kerngesund als Wolfsfutter gespendet werden sollte, hat Werner Freund allerdings höchstpersönlich weitervermittelt,“ erzählt Tatjana lächelnd von der weichen Seite des raubeinigen Forschers. Genau wie Werner Freund, der ursprünglich Gärtner war, ist auch Tatjana Schneider eine Quereinsteigerin, hat sich ihr Wissen im Laufe der Jahre selbst beigebracht. Heute ist sie eine Koryphäe und gibt ihr Wissen an die nächste Generation weiter. Neben ihrem Engagement als Wolfsforscherin sind vor allem ihre Arbeiten als Malerin bekannt. Sie und ihr Freund Michael (37) kämpfen tagtäglich um das Image des Wolfes. So lässt die beiden auch die Diskussion um die in Deutschland wieder eingewanderten Tiere nicht kalt. „Es wird so viel Unsinn erzählt,“ erbost sich Tatjana. „In jedem Frühjahr wurden viele Wölfe gesehen. Manche Leute setzen diese Sichtungen mit mangelnder Scheu gleich. Das ist totaler Blödsinn. Die Wölfe, die man gesehen hat, waren allesamt Jungwölfe auf der Suche nach einem neuen Revier. Wie sollen sie es denn im dichtbesiedelten Deutschland hinbekommen, auf ihren Wanderungen nicht gesehen zu werden?“

EuropäŠischer Wolf.

Die Folge: Forderungen nach Abschuss wurde einem Jungwolf namens Kurti zum Verhängnis. Der Welpe hatte sich in Niedersachsen, im Gegensatz zur landläufigen Meinung, auch tagsüber sehen lassen, und er wirkte wenig scheu. Ein schwedischer Experte sollte das Tier im Frühjahr vergrämen. Doch es kam nicht dazu, weil der Wolf vor dem Wolfsschützer flüchtete, sich also doch scheu zeigte. Der Experte bescheinigte dem Jungtier daraufhin Ungefährlichkeit. Kurti wurde trotzdem am 28. April des vergangenen Jahres abgeschossen. Politiker, Landwirte und Jäger in Niedersachsen ernteten danach viel Kritik, weil sie die Angst geschürt haben sollten. Angeblich soll Kurti immer wieder Menschen erschreckt, und einen Labrador in den Po gebissen haben. Beweise? Fehlanzeige. Nicht einmal einen Nutztierriss konnte man dem Welpen nachweisen. Der prominente Tierfilmer Andreas Kieling beklagte via Facebook die Tötung von Bruder Wolf und Elli Radinger stelle in einem offenen Brief die Frage „War Kurti ein Bauernopfer? Wahrscheinlich ja.“  Doch auch die Reaktion einiger Naturschutzverbände konnten viele Menschen nicht nachvollziehen: Eine an die Öffentlichkeit gelangte Mail des Nabu an seine Mitglieder erklärte die Zustimmung zum Abschuss so: „Die Frage, ob dieses distanzlose Wolfsverhalten aus biologischer Sicht „normal“ oder „unnormal“ ist, tritt in den Hintergrund.“ Die Ängste der Menschen seien ausschlaggebend. Hunde- und Wolfsexperte Günther Bloch bezeichnete die Deutschen in einem Interview mit dem ZDF als naturentfremdet.